Scholz in China: Deutschlands letzter Sargnagel – oder doch ein Schritt zur Rettung?
Von Dagmar Henn
Die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach China wird schon schwer attackiert, ehe sie überhaupt begonnen hat. Reinhard Bütikofer, abgebrochener Sinologie-Student und früher KBW-Mitglied, dann Vorsitzender der Grünen und heute deren außenpolitischer Sprecher, erklärte, die Reise sei "zu diesem Zeitpunkt, in diesem Format und mit dieser Unklarheit in der Strategie des Kanzlers nicht richtig". Auch Außenministerin Annalena Baerbock beschwerte sich schon, nicht gefragt worden zu sein: "Der Bundeskanzler hat den Zeitpunkt seiner Reise entschieden. Jetzt ist entscheidend, die Botschaften, die wir gemeinsam festgelegt haben im Koalitionsvertrag, die Botschaften, die ich auch hier mit nach Zentralasien gebracht habe, auch in China deutlich zu machen."
Aber auch die NATO-Haram der deutschen Medienlandschaft hält sich nicht zurück. "Ein Scholz-Alleingang zu viel" titelt die Süddeutsche und bezieht sich auf Brüsseler Aussagen, um richtig loszukeilen: "Dass Scholz ausgerechnet jetzt mit einer großen Delegation von Wirtschaftsvertretern nach Peking reist und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping seine Aufwartung macht, der sich gerade zum Alleinherrscher aufgeschwungen hat, der Taiwan mit Krieg droht und der Wladimir Putin trotz dessen Überfall auf die Ukraine weiter die Treue hält, stößt auf Unverständnis." Das ZDF liefert einen Kommentar unter der Überschrift "Warum Scholz nicht fahren sollte" und giftet, "kurz nach dem Parteitag, kurz nach der Krönung des neuen Kaisers Xi kommt jemand, der wie früher Chinas Vasallenstaaten, mit Gaben seine Ehre und seinen Respekt bezeugt. Mehr könnte sich Xi eigentlich nicht wünschen".
Das neue Leitthema, das bereits in der Propaganda gegen Russland eingeführt wurde, lautet "Abhängigkeit", und zwar in dem Sinne, dass es von Übel sei, auf die Produkte anderer Länder angewiesen zu sein, zumindest, wenn diese Russland oder China heißen. Nachdem es gelungen ist, dank des Verzichts auf die "Abhängigkeit" von russischem Gas die Deutschen in Dunkelheit und Kälte zu schicken, sind nun die Grünen wie die EU-Kommission dabei, Sanktionen gegen China vorzubereiten und auch diese ökonomische Lebensader noch zu kappen.
Die vorgetragene Begründung lautet, wie üblich, "Menschenrechte", also all die fantasiereich gesponnenen Erzählungen des Adrian Zenz (wer Englisch versteht, kann sich auf dem Kanal The New Atlas ausführlich darüber informieren); in Wirklichkeit steckt dahinter selbstverständlich der Versuch, die US-Hegemonie zu erhalten.
Scholz fühlte sich von diesen vielfachen Vorwürfen bedrängt genug, dass er in einem Artikel in der FAZ dazu Stellung nahm. Es lässt sich nicht viel jenseits der üblichen Floskeln darin finden; das Spannendste ist noch diese Passage: "Gerade Deutschland (...) hat kein Interesse an einer neuen Blockbildung in der Welt. (...) Mit Blick auf China heißt das: Natürlich wird dieses Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern und seiner wirtschaftlichen Stärke künftig eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne spielen – so wie übrigens über weite Strecken der Weltgeschichte hinweg. Daraus lässt sich aber ebenso wenig die Forderung mancher nach einer Isolierung Chinas ableiten wie ein Anspruch auf hegemoniale Dominanz Chinas oder gar eine sinozentrische Weltordnung."
Man könnte daraus lesen, dass Scholz zum einen, im Gegensatz zu seinen grünen Koalitionspartnern, den gegebenen Größenunterschied zwischen Deutschland und China zumindest wahrnimmt, und dass er zum anderen eine Rolle Chinas als Weltmacht zumindest nicht verhindern will. Übrigens steht zwischen diesen beiden Sätzen noch, auch die USA wollten keine neue Blockbildung; das ist, wie der geopolitisch gebildete Leser weiß, eine Halbwahrheit. Die USA wollen schlicht einzige Weltmacht sein.
Auch diese Sätze sind interessant, wenn auch die Deutung der benannten Fakten etwas eigenartig ist: "Chinas Wirtschaftsstrategie der zwei Kreisläufe ist darauf ausgerichtet, den innerchinesischen Markt zu stärken und Abhängigkeiten von anderen Ländern herunterzufahren. In einer Rede Ende 2020 hat Präsident Xi Jinping zudem davon gesprochen, chinesische Technologien einzusetzen, um 'die Abhängigkeit internationaler Produktionsketten von China zu verschärfen'. Solche Aussagen nehmen wir ernst."
Vor wenigen Jahren noch lautete der Vorwurf gegen China, es exportiere zu viel und solle den Binnenkonsum stärken. Genau das ist geschehen. Jetzt liest Scholz die Aussage von Xi Jinping zu internationalen Produktionsketten als Aggression, dabei ist sie das Gegenteil; es ist schlicht die Reaktion auf die Tatsache, dass sich bereits damals abzeichnete, dass der Westen China gerne sanktionieren würde. Den Preis dafür hochzutreiben ist da nur verständlicher Selbstschutz.
Aber immerhin, seine Aussagen versuchen zumindest, ein Gleichgewicht zwischen der von den Transatlantikern geforderten Konfrontation und der von der deutschen Industrie geforderten Kooperation zu halten. Die nämlich hat sich ebenfalls geäußert. Die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie beispielsweise äußerte, eine Entkopplung von China sei "nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geopolitisch falsch". Auch vom Bundesverband der Mittelständischen Wirtschaft wurde die Bedeutung Chinas betont. Der Chemiegigant BASF ist gerade dabei, auf die hohen Energiepreise in Deutschland mit einer Verlagerung nach China zu reagieren.
Es ist gerade die Anwesenheit der Industrievertreter, die die Grünen zum Vorwurf machen. Scholz müsse Personen mitnehmen, die mit einem Einreiseverbot belegt sind, er solle in Bezug auf Taiwan provozieren ... Jeder geschäftsmäßige Umgang mit der Volksrepublik ist ihnen zuwider.
Aber was wird Olaf Scholz in China wirklich besprechen? Das ist eine Frage, die vermutlich selbst nach seinem Besuch nicht gleich beantwortet werden kann. Dazu muss man zuerst einmal an eine ganz andere Stelle gehen, zum Gespräch von Scholz mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan am 1. November.
Die beiden Zusammenfassungen dieses Gesprächs, die deutsche und die türkische, lesen sich wie Berichte zweier verschiedener Gespräche. So steht in der deutschen Version neben einem Lob für den Getreidekorridor, Scholz habe den russischen Vorwurf, die Ukraine arbeite an einer "schmutzigen Bombe", "entschieden als haltlos" zurückgewiesen, und: "Der Bundeskanzler und der türkische Staatspräsident waren sich einig, dass Russlands nukleare Rhetorik unverantwortlich sei."
Die türkische Variante dreht sich um deutsch-türkische Beziehungen, den türkischen Wunsch nach deutscher Neutralität im Konflikt mit Griechenland und die EU; zum gesamten Komplex Ukraine steht da nur, dass beide "auch über die jüngsten Entwicklungen im russisch-ukrainischen Krieg gesprochen" hätten.
Und nun die interessante Fußnote, die erklärt, warum die Bandbreite der Erwartungen zu den Gesprächen in China so extrem ist. Erdoğan hat in einer Livesendung mit mehreren türkischen Sendern über sein Telefonat mit Scholz gesprochen und dort gesagt, sowohl Scholz als auch Putin hätten in den jeweiligen Telefonaten die Bedeutung der Diplomatie hervorgehoben. "Selbst Olaf war vor einem Monat an einem ganz anderen Punkt, aber jetzt ist er an einem anderen Punkt." Die Deutsche Welle auf Türkisch fand diese Aussage bedeutend genug, dass sie gleich versuchte, sie mit Hilfe der deutschen Zusammenfassung zu übertünchen. Was natürlich nicht besagt, dass Erdoğans Andeutung, Scholz könne jetzt verhandlungsbereiter sein als vor einem Monat, nicht stimmt.
Version 1 der möglichen Ereignisse bei Scholz' Gespräch mit Xi Jinping skizzierte Michael Hudson: "Der deutsche Kanzler Olaf Scholz geht diese Woche nach China, um zu fordern, dass es seinen öffentlichen Sektor abbaut und seine Wirtschaft nicht länger subventioniert, sonst werden Deutschland und Europa Sanktionen über den Handel mit China verhängen. China kann auf diese lächerlichen Forderungen keinesfalls eingehen, ebenso wenig, wie die Vereinigten Staaten oder irgendeine andere industrialisierte Wirtschaft aufhören würde, ihre Produktion von Mikrochips oder andere Schlüsselsektoren zu fördern. (...) Das verspricht, der letzte Nagel im Sarg der deutschen Wirtschaft zu werden."
Gäbe es nicht diese irrlichternde Aussage Erdoğans, die Erwartung, die Hudson hier äußert, träfe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu. Auch wenn Scholz Vertreter der realen, produzierenden Industrie im Gefolge hat, in den letzten Monaten war die gesamte (sichtbare) deutsche Außenpolitik völlig den Interessen der Rentenökonomie und damit der US-Hegemonie untergeordnet; es war ja nicht einmal ein Mucks zu Nord Stream zu vernehmen. Die Erwartungen des grünen Koalitionspartners wie der US-amerikanischen "Freunde" sind klar, und es zeigte sich bisher nicht der leiseste Widerstand gegen den angekündigten Untergang innerhalb der politischen Klasse. Tatsächlich, nach dem verheerenden Bruch mit Russland auch noch ein Bruch mit China wäre der letzte Nagel im Sarg, und die Deutschen könnten schon einmal anfangen, das Ziehen von Holzpflügen zu üben.
Aber da gibt es noch eine Variante, von Pepe Escobar, der in der Regel nicht schlecht informiert ist; wobei man natürlich gegenüber Nachrichten, die unerwartete Hoffnungen sprießen lassen, besonders skeptisch sein muss.
Escobar bezieht sich auf Quellen in deutschen Unternehmen. Er schreibt: "Sie sagen mir, Scholz geht nach China, um über Peking einen Friedensschluss mit Russland auszuhandeln." Zwischen Berlin und Moskau sei, erklärt er, bis zum Anschlag auf Nord Stream der Kontakt nie abgebrochen. Die Delegation könne versuchen, China als Verbündeten an die Stelle der USA zu setzen. Und nun zitiert er zwei seiner Quellen. Die erste: "Wenn dieser Versuch erfolgreich ist, dann können Deutschland, China und Russland sich verbünden und die USA aus Europa vertreiben." Und nun die zweite: "Olaf Scholz wird auf dieser Reise von deutschen Industriellen begleitet, die Deutschland wirklich kontrollieren und sich nicht zurücklehnen werden und zusehen, wie sie zerstört werden."
Untergang oder Rettung, und das eine oder das andere durch diese Reise besiegelt? Die Aufregung, die vorab entstand, die heftigen Proteste aus der transatlantischen Ecke legen zumindest nahe, dass da eine ernsthafte Differenz besteht. Nachdem Scholz' Begleiter aus der Industrie und nicht von Allianz, Pimco oder BlackRock sind, ist auch denkbar, dass sie nicht wirklich der grünen Agenda folgen wollen.
Aber Escobars Version? Das hieße übersetzt, Scholz flöge nach China, und danach zerbricht die Ampel. Mehr noch, eine Realisierung eines derartigen Bündniswechsels würde bedeuten, den gesamten staatlichen und medialen Apparat völlig umzukrempeln, um die Transatlantiker zu entfernen. Dazu dürfte selbst die willigste und einsichtigste deutsche Regierung ohne äußere Unterstützung oder etwas noch exotischeres, die politische Mobilisierung der eigenen Bevölkerung, nicht im Stande sein.
Eine noch günstige Variante, sollte Scholz wider Erwarten doch so etwas wie ein deutscher Kanzler sein, dürfte eher eine große Kopie der serbischen Politik werden. Mäuschen spielen, mal Nachgeben andeuten, ansonsten hinhalten und auf den Augenblick warten, an dem das US-amerikanische Untier zu Fall gekommen ist. Was als Aussage Xi Jinping gegenüber dann lauten dürfte, wir werfen so viel Sand ins Getriebe, wie wir können, aber habt Geduld mit uns.
Es wird wieder einmal nur die Zeit zeigen, welche Variante der Wirklichkeit entspricht.
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